2015-07. Nur nicht aufgeben

Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen, schrieb Anton Bruckner. Dass daraus dreißig Jahre werden, war nicht vorherzusehen. Im Sommer 1985 entstanden die ersten Ideen zum automatischen Falten von Büropapier. 1985, da waren OPUS mit “Live is Life” in den Charts, Falco mit “Rock me Amadeus”, Tina Turner mit “We Don´t Need Another Hero” und Modern Talking. Madonna kam auf und mit ihr die Leggins, Nico Rosberg wurde geboren.

Aus dieser Zeit stammen auch die Gedanken von Joseph Campbell, einem Professor für Mythologie: „Folgt man seinem Traum, betritt man einen Weg, der ganz genau dem entspricht, was man braucht, um zu machen, was man schon immer tun wollte. Von diesem Augenblick an begegnet man Menschen, die diesen Traum mit einem teilen, und Türen öffnen sich.“

Türen schließen sich aber auch und Träume zerplatzen. Es kommt der nächste und der übernächste. Türe auf, Türe zu, Türe auf, Türe zu. Waren da nicht jene von einem gescheiten, betreuten Jugendzentrum im Ort, oder vor allem von der Schaffung von Arbeitsplätzen gegen die Abwanderung, dann noch der Interreligiöse Dialog, wieder Arbeitsplätze, ein Jugendfonds? Alle waren sie schon in der Projektphase. Türe auf, Türe zu.

Waren es die richtigen Träume? Im Nachhinein gesehen zum Teil sicher nicht. Ich denke nur an eine Produktion in der Region im Hinblick auf Industrie 4.0, der kommenden smarten Fabrik. War die Zeit einfach noch nicht reif? War´s das jetzt? Normalerweise schon – wenn da nicht dieser Weg, den ich vor 30 Jahren betrat, immer noch vorhanden wäre. Dreißig Jahre einem Ziel folgen, dabei jahrelang mit neunzig bis hundertzehn Wochenstunden. Okay, das war dann idiotisch und letztendlich extrem ungesund und kontraproduktiv. Bei Krebs hört sich der Spaß auf. Es ist kein Besessensein von einer Idee, keine Blindheit oder Realitätsverweigerung, sondern eine Verknüpfung von einem nicht Aufgeben und einem ständigen Infragestellen.

Joseph Campbell schrieb noch: „Man braucht Mut um das zu tun, was man möchte, denn die anderen haben immer einen Haufen Pläne für uns. Frei sein beinhaltet auch immer, einen eigenen Weg zu wählen, und jeder Schritt kann das Schicksal verändern – und das macht manchmal große Angst.“ Und dann weiter: „Was ich brauchte, kam immer genau dann, wenn es notwendig war.“

So bin ich weiter auf diesem Weg unterwegs. Er ist noch immer mühsam zu beschreiten, aber um vieles attraktiver und erfolgversprechender als je zuvor. Wo er – über die wirtschaftliche Zielsetzung hinaus – hinführt und was danach kommt? Ich weiß es nicht, nichts geträumt, aber es wird toll werden. Da habe ich das Vertrauen und den Glauben. Nichts auf der Welt ist mächtiger, als eine Idee deren Zeit gekommen ist. (Viktor Hugo)

Für Dorothee Sölle bedeutet christliche Mystik: „Grenzenlos glücklich, absolut furchtlos, immer in Schwierigkeiten“. Von der zweiten Eigenschaft bin ich ziemlich entfernt, arbeite jedoch daran.

2015-06. 8| HILDA R.

Unvergesslich waren aber eher die vielen Ausfahrten mit dem Rollstuhl, meist quer durch Alt-Ottakring zum Friedhof. Ich weiß, am Anfang waren sie mir unangenehm. Jetzt, im Nachhinein gesehen, verbinde ich mit ihnen ein Gefühl von Freiheit und von Beflügeltsein. Sonderbar irgendwie.

Ich bin sicher, dass Hilda ihre Unterschrift auf den Heimvertrag mit dem Haus der Barmherzigkeit nicht bereute. Sie wurde toll betreut, lebte in einem Umfeld, das ihr sonst nicht geboten worden wäre und gewann wieder Vertrauen in die Menschen. Sie tat sich nur etwas schwer, das auch richtig rüber zu bringen.

Es war irgendwie vorhersehbar, dass mit ihrem Tod nicht alles normal ablaufen wird. Als Sachwalter wurde ich zunächst vom Pflegeheim informiert, dass Hilda in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Von dort kam von einem Arzt die Anfrage, ob ich eine Zustimmung zu weiteren belastenden Untersuchungen gebe. Alternativ empfahl er, sie – mit dem Nötigsten versorgt -, friedlich einschlafen zu lassen. Wir zündeten für sie bei uns eine Kerze an. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass sich ihr Zustand stabilisierte und es ganz gut gehe. Danach gab es noch eine Nachricht auf meine Mailbox und wenig Konkretes.

Drei Tage später fuhr ich nach Wien um Hilda im Krankenhaus zu besuchen. Zuvor ging ich noch zu ihrer Bank um als Sachwalter eine Ratenvereinbarung für sie zu treffen und Netbanking zu beantragen. Das ganze dauerte mit den Überprüfungen und den Rückfragen eine Stunde. Pünktlich zu Beginn der Besuchszeit war ich danach im Krankenhaus, wo man mir leicht konsterniert mitteilte, dass Hilda bereits vor drei Tagen starb. Infolge mehrerer Missverständnisse kam diese Nachricht nicht bei mir an. Unmittelbar mit dem Tod erlischt jedoch auch die Sachwalterschaft. Ich hätte daher die Vereinbarung mit der Bank nicht mehr treffen dürfen. Also  nochmals zurück, der Bankmitarbeiterin die neue Sachlage darlegen und alles wieder stornieren.

Liebe Hilda, auch wenn es oft sehr mühsam war und unsere Familie manchmal vor einer Zerreisprobe stand, sind wir sehr dankbar, dass es dich gab. Du hast die vergangenen dreieinhalb Jahre mitgeprägt und unser Leben vielfältig bereichert. Wir wurden ruhiger, ausgeglichener, verständnisvoller und lernten viel.

Wir sind dankbar dafür, dass wir all jene Menschen, die dir in irgendeiner Form zur Seite standen, kennenlernen durften. Dankbar bin ich dafür, dass ich das Thema Demenz jetzt nicht mehr nur aus den Medien kenne, sondern direkt damit konfrontiert wurde. Hilda, es tut mir leid, dass ich dabei vieles falsch machte. Ich hätte mich besser informieren müssen.

Wir sind dankbar, dass wir durch die vielen Fahrten nach Wien unsere Kinder wesentlich häufiger sehen konnten. Der Geruch der Ottakringer Brauerei, der Duft der Manner-Fabrik, die Balkan-Meile, der Brunnenmarkt, der Wilhelminenberg, die U3 und noch viele weitere Eindrücke hätten wir ohne dich kaum in diesem Ausmaß mitnehmen können. CU

Wie sagte Schoppenhauer: „Wenn man betrachtet, was man überwunden hat, hat man das Gefühl, einer bereits geschriebenen Handlung zu folgen. Doch im Augenblick des Handelns fühlt man sich verloren wie in einem Unwetter: Eine Überraschung folgt auf die andere, und oftmals bleibt keine Zeit zum Durchatmen – weil man ständig gezwungen ist, Entscheidungen zu treffen. Erst später begreift man, dass jede Überraschung, jeder Entschluss seinen Sinn hatte.“

2015-06. 7| HILDA R.

Über ein Jahr war sie im Haus der Barmherzigkeit. Kaum vorstellbar. Lange Zeit noch wollte sie wieder in die Wohnung zurück. Sie verweigerte mir gegenüber daher auch den Heimvertrag zu unterschreiben. Ohne Heimvertrag war aber der weitere Aufenthalt im Pflegeheim nicht möglich. Und das wusste sie. Diese Herausforderung schaffte die Sozialarbeiterin des Hauses. Ruhig, unaufgeregt, mit Händehalten und Streicheln übermittelte sie glaubwürdig die einzelnen Punkte des Vertrages. Wesentlich war, dass diese von Hilda auch großteils verstanden und aufgenommen wurden. Das „Na gut, dann unterschreib ich halt“ kam für uns beide dennoch überraschend. Irritiert hatten mich bei diesem Gespräch, und auch schon zuvor bei der Heimhilfe, das Händehalten und diese Streicheleinheitn. Das ist doch eine persönliche, eine zärtliche Geste und die Sozialarbeiterin kannte Hilda eigentlich nicht. Ich habe noch lange gebraucht um auch das Fürsorgliche in diesem Zeichen zu erkennen und Hildas Hand halten zu können.

Der für Hilda wesentliche Punkt des Heimvertrages war die Möglichkeit, wieder raus kommen zu können. Die Probeentlassung, die ihr zunächst die Rückkehr in die Wohnung für eine kurze Zeit ermöglichte, zeigte aber, dass eine Betreuung zuhause nicht mehr funktionierte. Hilda kam wieder ins Heim, die Wohnung behielt sie dennoch als Sicherheit, und Ich konnte es nachvollziehen. Schwieriger wurde es allerdings mit dem Geld. Beides, Pflegeheim und Wohnung, ging sich nicht aus. Es war leicht auszurechnen, wann durch die monatlichen Mieten der Kontoüberziehungsrahmen ausgeschöpft ist. Die Folge wäre eine Zwangsräumung gewesen. Ich beantragte daher – auch auf Anraten des Pflegeheimes – meine Bestellung als Sachwalter. Diese wurde erteilt und ich konnte somit die Wohnung kündigen. Die Zustimmung von Hilda kam überraschend, berührend, ich begriff sie erst Stunden später.

Die Räumung der Wohnung stellte dann wieder ein eigenes Kapitel dar. Ein Volltreffer war dabei die Geschichte mit dem Gewehr. Wir fanden es im Kellerabteil und brachten es unmittelbar in das nächste Wachzimmer. Dort war man etwas irritiert und schickte uns zur Hauptdienststelle. Ich (!) lief darauf mit dem Gewehr in der Hand durch halb Ottakring zu dieser Adresse. Auch dort gewann ich den Eindruck, dass dies nicht eine alltägliche Situation darstellte. Nach einer Stunde mit vielen Fragen, Beratungen im Hintergrund und der Zerlegung des Gewehrs erhielt ich es wieder zurück. Dabei wollte ich es doch schnellstens loswerden. Ging nicht, dieses Gewehr kann jeder ab 18 ohne Waffenschein besitzen. So blieb eine, diesmal jedoch von einem Beamten gut verpackte Waffe als Erinnerung an Hilda zurück.

2015-06. 6| HILDA R.

Vor eineinhalb Jahren war es dann soweit – im Haus der Barmherzigkeit, dem Pflegekrankenhaus der Diözese Wien – wurde für Hilda ein Platz frei. Nur, sie nahm diesen nicht an, sie schaffte es einfach nicht. Es erfolgte eine Zurückreihung auf der Warteliste. Nun wurde es kompliziert. Die Heimhilfe drängte auf eine Lösung, eine 24-Stundenbetreuung wäre sich finanziell nur sehr knapp ausgegangen, die räumlichen Voraussetzungen dazu fehlten jedoch. Nach langen Diskussionen in der Familie und dem okay der Jugendorganisation kam dann das Ergebnis: Wir trennten einen Teil der Jugendräume, die sich in unserem Haus befinden, ab, versetzten eine Türe, änderten den Zugangsbereich und schufen so einen separaten Raum mit Küche und WC. Ein Jugendzentrum mit angeschlossenem Pflegebereich also. Der Pflegedienst in Wien beendete den Vertrag und wir siedelten Hilda knapp vor Ostern mit viel Bauchweh zu uns nach Mariazell.

Es folgten die ersten Ausfahrten mit dem Rollstuhl, Hilda verlor dabei zusehends ihr Unbehagen und begann Freude an der neuen Freiheit zu finden. Ausflüge, Mittagessen im Gasthaus, das Kaffeehaus nachmittags, neue Schuhe, neues Gewand – das Geld wurde bald knapp, und die Zeit. Wir konnten kaum mehr etwas anderes arbeiten, Hilda rief auch in der Nacht nach uns. Dazu kam noch, dass bei uns in der Osterwoche traditionell ein großes Familientreffen stattfindet, auf das sich alle freuten.

Die Stimmung wurde zunehmend gereizter – das Blödeste, was im Zusammenhang mit an Demenz Leidenden passieren kann. Sowohl Hilda als auch wir waren einem Nervenzusammenbruch nahe. Wie durch ein Wunder kam dann mitten in diese verfahrene Situation die Nachricht vom Pflegeheim, dass am Dienstag nach Ostern wieder ein Platz frei wird. Wow. Und was tun? Hilda wollte immer noch bei uns bleiben oder zumindest in ihre Wohnung zurück. Das ging aber nicht, die Heimhilfe wäre nicht mehr gekommen. Hilda war der Meinung, dass sie alles alleine schaffen würde. Undenkbar. Das heißt, bei uns konnte sie nicht bleiben, wir hätten nicht einmal mehr die Tage über Ostern geschafft. In ihre Wohnung konnten wir sie auch nicht zurückbringen und danach alleine lassen. Sie wäre zwangseingewiesen worden. In das Pflegeheim wollte sie nicht. Und gegen ihren Willen durften wir, schon alleine rechtlich, nichts unternehmen.

So saßen wir mehrere Stunden bei ihr, beruhigten sie und versuchten, das frühere Vertrauen wieder herzustellen. Irgendwann kam dann ihre Zustimmung zur Übersiedelung ins Heim. Jetzt nichts wie auf nach Wien. Das ging aber wiederum nicht, da der Platz erst vier Tage später frei wurde. So brachten wir sie mit einem Taxi auf gut Glück zunächst in das Wilhelminenspital nach Wien in der Hoffnung, dass sie dort zur Überbrückung aufgenommen wird. Sobald Hilda die Wiener Luft roch, wollte sie vom Spital und vom Heim nichts mehr wissen und nur in ihre Wohnung. Das vermittelte sie im Spital sehr deutlich: Wir saßen mit vielen Menschen in der Ambulanz und warteten bis ihre Nummer aufgerufen wurde. Das reichte Hilda. Sie begann laut zu rufen: „Hilfe, die haben mich entführt, die sind mit mir überhaupt nicht verwandt.“ Zuletzt klappte es doch, sie wurde aufgenommen und die Woche darauf in das Heim geführt, wo wir sie erleichtert empfangen durften.

2015-06. 5| HILDA R.

Die nächste Herausforderung kam mit dem Wunsch von Hilda, zu uns zu ziehen. Es war sehr mühsam, ihr zu vermitteln, dass für sie ein Pflegeheim wesentlich attraktiver wäre. Wie erklärst du das aber einer Frau, die noch das Bild einer Pflegeanstalt der Fünfzigerjahre im Kopf hat, die ihre Mutter aus dem Pflegeheim Lainz zurück holte und dann selbst betreute. Wir besuchten als Jugendgruppe in den Siebzigerjahren auf eine Initiative von Pater Sporschill regelmäßig alleinstehende Menschen in Lainz. Der heutige Standard ist nicht mehr vergleichbar mit den damaligen Schlafsälen.

Hilda unterschrieb den Antrag auf eine Heimförderung. Damit war der erste Schritt zu einem Heimplatz gegeben. Der war auch schon dringend nötig, da die Heimhilfe wegen der beginnenden Demenz und wegen nicht vorhandener Voraussetzungen die Einstellung der Betreuung ansprach. Hilda war an ihre Wohnung gefesselt und schon jahrelang nicht mehr außer Haus. Der Rollstuhl, den wir besorgten, passte nicht in den Aufzug. Laut Heimhilfe wurde die Situation zunehmend menschenunwürdig.

Es dauerte noch ein Jahr, bis das Okay für die Finanzierung eines Heimplatzes kam. Hilda machte immer wieder Rückzieher und bremste bei den erforderlichen Untersuchungen. Sie will nicht ins Heim, will zu uns kommen oder zumindest bei ihren Tieren bleiben.

NinaDann starben eine der beiden Katzen und etwas später bei einer Operation auch ihr Hund Nina. Er war wirklich ein außergewöhnlich lieber Hund und er war auch sehr intelligent. Als Hilda letztes Mal aus dem Krankenhaus zurück in die Wohnung gebracht wurde, kam er ihr voll Freude mit ihrem Gebiss in seinem kleinen Maul entgegen. Sie verlor es vor der Einlieferung ins Krankenhaus. Nina sah aus wie aus der Pediree-Werbung. Auch wenn der Tod von Nina traurig und eine totale Katastrophe war, erhöhte es die Chance, dass Hilda in das Heim gehen würde, sobald ein Zimmer zur Verfügung steht.

2015-06. 4| HILDA R.

Unsere Fahrten nach Wien wurden immer häufiger, ebenso die Telefongespräche. Hilda rief bis zu zehnmal pro Tag an. Die Anspannung bei uns war enorm. Eine große Erleichterung brachte die Sperre ihres Telefonanschlusses durch die Post. Hilda merkte sich die Nummern immer schwerer und kam dann irgendwie zu einer Telefonauskunft, welche Gespräche gleich weitervermittelt und dafür auch Gebühren verrechnet. Damit sprang ihre zweimonatliche Telefonrechnung von durchschnittlich 500,– EUR auf mehr als 1600,– an. Die Konsequenz waren ein neuer Telefonapparat mit großen Ziffern und programmierten Tasten sowie die Vereinbarung über möglichst fixe Anrufzeiten. Was dann auch ganz gut funktionierte. Ab dieser Zeit unterstütze ich sie auch in ihren finanziellen Dingen.

Nachdem mein Zeitaufwand immer größer und mein Auto immer reparaturanfälliger und unzuverlässiger wurde, entschied ich mich, es zu verkaufen und auf öffentliche Alternativen umzusteigen. Die logische Überlegung dabei war: Als Nachtarbeiter stehe ich prinzipiell etwas später auf. Wenn ich nun sehr zeitig aufstehe, mit der ersten möglichen Fahrgelegenheit nach Wien fahre und während der Fahrt weiterschlafe, komme ich etwa zu jener Zeit an, zu der ich normalerweise beim Frühstück sitze. Damit verliere ich keine Zeit. Genauso funktioniert es bei der Rückfahrt, wenn ich in der WG meiner erwachsenen Kinder übernachte. Fahre ich noch am selben Tag zurück, kann ich während der Fahrt lesen oder mit dem Laptop arbeiten. Auf diese Weise kamen in den vergangenen zweieinhalb Jahren etwa 120 Wienfahrten mit 37.000 km zusammen, und hunderte U-Bahn-Fahrten. Mein ökologischer Fußabdruck verbesserte sich enorm. Na gut, es war schon auch eine ziemliche Überwindung, nicht mehr selbst zu fahren.

2015-06. 3| HILDA R.

Mit der Entlassung aus dem Krankenhaus startete auch die tägliche Betreuung durch eine Heimhilfe. Die Organisation war sehr erfreut, in unserer Familie Ansprechpartner zu haben. Hilda, diese sehr misstrauische, aber auch stark herausfordernde alte Dame – ein typischer Skorpion – gewann wieder etwas Vertrauen und wir waren, ehe wir es so richtig mitbekamen, mitten im Geschehen. Antrag auf Erhöhung der Pflegestufe, Unterstützung der Heimhilfe, Tierarztbesuche, ergänzende Einkäufe erledigen, Termine koordinieren und oftmaliges Vermitteln zwischen ihr und den Heimhelferinnen. Dazu eine sehr bemühte und engagierte Dame: „Wir betreuen in unserer Organisation über 1000 Klienten. Wären davon nur 10 Leute so wie Hilda, würde das System crashen.“ Die Heimhelfer und –helferinnen waren nicht zu beneiden. Es dürfte Tage gegeben haben, an denen der Besuchsdienst nur schwer möglich war, da niemand zur Hilda wollte.

Zwischen dem ständigen Betreuer sowie der nachfolgenden Betreuerin und uns entwickelte sich eine persönliche Freundschaft. Beide hatten zu Hilda eine stärkere emotionale Bindung aufgebaut und konnten sehr gut auf ihre Eigenheiten eingehen. Dass der eine Betreuer sich in ein anderes Viertel versetzen ließ, nur um einen sich zusammenbrauenden Riesenkrach mit Hilda zu vermeiden, konnte ich erst nachvollziehen als er seinen Entschluss begründete: Er wollte damit das von der Freundschaft mit ihr noch vorhandene Schöne und Wertvolle positiv in Erinnerung behalten und es nicht durch einen Streit auslöschen.

2015-06. 2| HILDA R.

Hilda ruft bei uns an. Wie´s geht und so, und dass sie ein Bild hat, das sie uns gerne schenken würde. Okay, danke, soll ich es holen kommen? Das wollte sie dann doch wieder nicht. Beim nächsten Anruf fragte sie, ob wir das Bild in die Basilika bringen könnten, sie würde es gerne der Kirche vermachen. Das ging noch einige Male so hin und her, wobei wir erst langsam die Hintergründe begriffen. Sie wollte einerseits das Bild loswerden, es andererseits aber nicht uns geben, da sie fürchtete, dass damit der Fluch, der am Bild haftet, auf uns übergeht. Davor hatte sie Angst.

Der Besuch kam dann doch zustande. Läuten, warten, Hilda öffnete, und ein den Atem nehmender Geruch kam entgegen. 35 m², ein Hund, zwei Katzen, sieben Sittiche und eine 87-jährige Frau, aus deren Plastik-Clogs das Blut ihres offenen Fußes floss. Eine Heimhilfe sagt uns später, dass sie schon über 20 Jahre in ihrem Job tätig sei, jedoch noch nie so eine Wohnung vorfand. Dabei hatte diese zu diesem Zeitpunkt bereits die erste Säuberungsaktion hinter sich. Der Versuch, Hilde in das Krankenhaus zu bringen, scheiterte. „Was ist mit denTieren, die werden mir dann weggenommen.“ Ohne ihre geliebten Tiere wollte sie nicht leben. Wir nahmen das Bild und fuhren ziemlich bestürzt und nachdenklich nach Hause. Es tauchten erstmals jene Fragen auf, die uns noch lange Zeit begleiteten: Wie ist das mit der Mitverantwortung, der Selbstbestimmung, der Würde des Menschen? Wer setzt die Maßstäbe, wo sind die Grenzen der Nächstenliebe?

Es dauerte noch viele Wochen bis Hilda nach einer großen Blutung die Rettung selbst verständigte und diese sie ins Krankenhaus brachte. Die vielen Telefonate davor und vor allem unser Versprechen, uns um die Tiere zu kümmern während sie einmal im Krankenhaus sein sollte, machten ihr den Entschluss leichter. Sie hätte die Nacht nicht überlebt. Hund, Katzen und Vögel waren während des Krankenhausaufenthaltes von Hilda bei uns untergebracht. Das Hin- und Hersiedeln wiederholte sich noch mehrere Male. Meist war es sehr kurzfristig und mit ziemlichen Stress verbunden. Einmal kam der Anruf von der Heimhilfe, dass Hilda einen blutenden Dekubitus hat, sie dringend ins Spital müsste, aber nicht will. Der Pfleger wiederum wollte und konnte das nicht weiter verantworten und machte eine Anzeige. Also rein nach Wien und checken was los ist. Die Wohnung von Hilda war fast zu klein, als nach mir noch der Amtsarzt, zwei Damen von der Fürsorge und zwei Polizisten kamen. Hilda ging freiwillig ins Krankenhaus. Es gab übrigens keinen Krankenhausaufenthalt, bei dem sie nicht einen Revers für eine vorzeitige Entlassung unterzeichnete.

2015-06. 1| IM GEDENKEN AN HILDA R.

Ende Mai starb Hilda. Sie wurde über neunzig Jahre alt. Hilda und ihr Mann waren Stammgäste in unserer ehemaligen Frühstückspension. Sie war Straßenbahnschaffnerin und übernahm später das Papierwarengeschäft ihrer Mutter. Ihr Mann arbeitete als Setzer in der Fahrschein-Druckerei. Im Laufe der Jahre entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihnen und meinen Eltern, von der nach der Schließung unserer Pension und dem Tod meiner Eltern noch ein wenig Kontakt über die jährliche Weihnachtskarte aufrecht blieb. Was dann vor vier Jahren passierte, lasse ich Hilda erzählen:

Mein Mann starb im Jahr 2002, ich lebe weiterhin in unserer alten Gemeindewohnung in Ottakring – gemeinsam mit meinem Pudel, meinen beiden Katzen und sieben Wellensittichen. Inzwischen bin ich 87, habe keine Kinder oder Verwandte. Meine Freundin, mit der ich regelmäßig telefonierte, starb vor einem Monat. Das Essen bekomme ich tiefgekühlt einmal wöchentlich vom Roten Kreuz. Meinen Hund führen Johanna, unsere Hausmeisterin und mein Nachbar Gassi. Dieser erledigt auch die finanziellen Dinge und kauft ein. Die Ersparnisse von mir und meinem Mann hatten wir als Altersvorsorge in Schmuck angelegt. Der ist jetzt weg. Bis vor drei Jahren räumte eine Haushilfe meine Wohnung auf. Einmal nahm sie auch ihren Freund mit, und dieser meinen Schmuck. Aus seiner Sicht wäre das kein Problem gewesen, ich hätte den Diebstahl nur bei der Versicherung melden müssen und dann den Verlust ersetzt bekommen. Nur, ich war nicht versichert. So kam es zu einer Anzeige und einer Gerichtsverhandlung. Es stellte sich heraus, dass die beiden mit diesem Betrug schon mehrfach erfolgreich waren. Der Mann kam ins Gefängnis und das Geld war weg.

Mein gesundes Misstrauen wird zunehmend gebrechlich. Eine neue Haushelferin kommt nicht mehr in Frage. Daher versuche ich – neben Kochen und Tiere versorgen -, auch die Wohnung selbst zu reinigen. Zugegebenermaßen gelang mir das immer schlechter und irgendwann war der Punkt erreicht, ab diesem ich niemanden mehr in die Wohnung lasse. Ich habe Angst davor, dass mir auf Grund des Zustandes der Wohnung meine Tiere weggenommen werden. Die Wohnungstüre ist die Grenze. Der Hund wird an dieser abgeholt und hier übergebe ich meinen Müll und kläre nötige Dinge ab. Das Essen wird bis hierher geliefert.

Mein Fuß schmerzt, ich habe eine offene, blutende Stelle. Ich wickle eine Fasche herum, die ich, so gut es geht, wechsle. Ich schlafe nur mehr auf der Couch, auf der ich auch den ganzen Tag über sitze. Oberhalb der Couch hängt eine Kopie eines Waldmüller-Bildes, welches von einem Wiener Kunst-Professor stammt. Auf diesem Bild – ein Geschenk meiner Schwägerin – wurden vom Künstler zwei Personen mit meinen Gesichtszügen und jenen meines Mannes gemalt. Irgendwann zerstritt ich mich mit meiner Schwägerin und seither habe ich immer stärker das Gefühl, dass dieses Bild verhext ist und mir nur mehr Unglück bringt. Ich würde es sehr gerne loswerden.

2015-05. Aha-Erlebnis

Erst Tage nach dem Artikel in der Hürriyet Daily News über die Klopapier-Fatwa kommt bei mir das große Aha-Erlebnis: Da machte ich auf der einen Seite zwei Erfindungen – eine zum Falzen von Briefpapier und eine zur Verbesserung der Hygiene in Toiletten. Auf der anderen, der spirituellen Seite, setzte ich mich im Rahmen der theologischen Kurse intensiv mit den beiden monotheistischen Religionen, dem Christentum und dem Islam, auseinander. Zwei Religionen, zwei Erfindungen. Okay, und was ist das Besondere daran?

Zunächst die Brieffalzmaschine: Briefe haben etwas zu tun mit Kommunikation und mit Post. Der Begriff Post kommt zunächst von italienisch posta, der ursprünglichen Bezeichnung für die Wechselstationen des Postwesens (lateinisch posita: „festgelegt“). Weiter zurück, kommen wir im Griechischen und Aramäischen zum – Apostel, der Gesandte oder der Sendbote (griech.: ἀπόστολος/apóstolos bzw. aramäisch: saliah). Also nach Verständnis der christlichen Tradition jemand, der von Jesus Christus direkt als „Gesandter“ beauftragt wurde. Der Apostel Paulus gilt als Kirchengründer. In den christlichen Frühgemeinden galten Apostel (Sendboten) als „Prototypen“ gemeindlicher Amtsträger. Sie waren „zum Dienen bestellt, verkünden das Evangelium furchtlos nach außen und sorgten in der Gemeinde für die Überlieferung der unverfälschten Lehre.“

Dann der Toilettenpapierspender: „Die Reinheit ist die Hälfte des Glaubens.“ Wie in einem anderen Beitrag bereits ausgeführt, stammt dieser Satz direkt vom Propheten Muhammed. Treffend formulierte ein Teilnehmer in einem Internetforum die Bedeutung der Hygiene im Islam: „Unser Prophet sagt, dass die Hygiene aus der Religion kommt, also quasi wie die Freiheitsstatue zur USA gehört, gehört die Hygiene zum Islam. Sie besitzt höchste Priorität und beim Gebet muss man immer rein sein.“ Im Islam wird zwischen einer inneren und eine äußeren Reinheit unterschieden, wobei die äußere Reinheit die innere symbolisiert. Die rituelle Gebetswaschung ist eine vorgeschriebene Bedingung für ein gültiges Gebet. Derjenige, der die rituelle Gebetswaschung vornehmen will, soll von sich nach dem Verrichten der Notdurft alle unreinen Substanzen, wie Ausscheidung von Urin oder Exkrementen, entfernen. Dies führt man möglichst mit Wasser (Istenjaa) aus. Ist kein Wasser vorhanden, kann die Reinigung u.a. auch mit Wasser aufsaugenden Papieren erfolgen (Istejmar).

Zwei Erfindungen mit zwei direkten Bezügen zu wesentlichen Themen zweier Weltreligionen. Das sagt wahrscheinlich nichts aus, auffällig ist es dennoch.