2015-06. 8| HILDA R.

Unvergesslich waren aber eher die vielen Ausfahrten mit dem Rollstuhl, meist quer durch Alt-Ottakring zum Friedhof. Ich weiß, am Anfang waren sie mir unangenehm. Jetzt, im Nachhinein gesehen, verbinde ich mit ihnen ein Gefühl von Freiheit und von Beflügeltsein. Sonderbar irgendwie.

Ich bin sicher, dass Hilda ihre Unterschrift auf den Heimvertrag mit dem Haus der Barmherzigkeit nicht bereute. Sie wurde toll betreut, lebte in einem Umfeld, das ihr sonst nicht geboten worden wäre und gewann wieder Vertrauen in die Menschen. Sie tat sich nur etwas schwer, das auch richtig rüber zu bringen.

Es war irgendwie vorhersehbar, dass mit ihrem Tod nicht alles normal ablaufen wird. Als Sachwalter wurde ich zunächst vom Pflegeheim informiert, dass Hilda in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Von dort kam von einem Arzt die Anfrage, ob ich eine Zustimmung zu weiteren belastenden Untersuchungen gebe. Alternativ empfahl er, sie – mit dem Nötigsten versorgt -, friedlich einschlafen zu lassen. Wir zündeten für sie bei uns eine Kerze an. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass sich ihr Zustand stabilisierte und es ganz gut gehe. Danach gab es noch eine Nachricht auf meine Mailbox und wenig Konkretes.

Drei Tage später fuhr ich nach Wien um Hilda im Krankenhaus zu besuchen. Zuvor ging ich noch zu ihrer Bank um als Sachwalter eine Ratenvereinbarung für sie zu treffen und Netbanking zu beantragen. Das ganze dauerte mit den Überprüfungen und den Rückfragen eine Stunde. Pünktlich zu Beginn der Besuchszeit war ich danach im Krankenhaus, wo man mir leicht konsterniert mitteilte, dass Hilda bereits vor drei Tagen starb. Infolge mehrerer Missverständnisse kam diese Nachricht nicht bei mir an. Unmittelbar mit dem Tod erlischt jedoch auch die Sachwalterschaft. Ich hätte daher die Vereinbarung mit der Bank nicht mehr treffen dürfen. Also  nochmals zurück, der Bankmitarbeiterin die neue Sachlage darlegen und alles wieder stornieren.

Liebe Hilda, auch wenn es oft sehr mühsam war und unsere Familie manchmal vor einer Zerreisprobe stand, sind wir sehr dankbar, dass es dich gab. Du hast die vergangenen dreieinhalb Jahre mitgeprägt und unser Leben vielfältig bereichert. Wir wurden ruhiger, ausgeglichener, verständnisvoller und lernten viel.

Wir sind dankbar dafür, dass wir all jene Menschen, die dir in irgendeiner Form zur Seite standen, kennenlernen durften. Dankbar bin ich dafür, dass ich das Thema Demenz jetzt nicht mehr nur aus den Medien kenne, sondern direkt damit konfrontiert wurde. Hilda, es tut mir leid, dass ich dabei vieles falsch machte. Ich hätte mich besser informieren müssen.

Wir sind dankbar, dass wir durch die vielen Fahrten nach Wien unsere Kinder wesentlich häufiger sehen konnten. Der Geruch der Ottakringer Brauerei, der Duft der Manner-Fabrik, die Balkan-Meile, der Brunnenmarkt, der Wilhelminenberg, die U3 und noch viele weitere Eindrücke hätten wir ohne dich kaum in diesem Ausmaß mitnehmen können. CU

Wie sagte Schoppenhauer: „Wenn man betrachtet, was man überwunden hat, hat man das Gefühl, einer bereits geschriebenen Handlung zu folgen. Doch im Augenblick des Handelns fühlt man sich verloren wie in einem Unwetter: Eine Überraschung folgt auf die andere, und oftmals bleibt keine Zeit zum Durchatmen – weil man ständig gezwungen ist, Entscheidungen zu treffen. Erst später begreift man, dass jede Überraschung, jeder Entschluss seinen Sinn hatte.“